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Die Rottweiler Fasnet als „heimatliches“ Symbol
Narretei im Fokus der Wissenschaft

von Jochen Schicht

Wer heute am Straßenrand dem Rottweiler Narrensprung beiwohnt und die mehreren Tausend „Kleidlesträger“ bewundert, kann wahrscheinlich kaum glauben, dass etwa Mitte des 19. Jahrhunderts ein stetiger Niedergang dieser Feierform einsetzte. Der 1888 als Rettungsmaßnahme eingeführte „Narrensprung“ verkam bald zum morgendlichen Vorspiel für den großen karnevalesken Umzug am Nachmittag. 1903 war der Tiefpunkt erreicht: Gerade noch neun Vermummte „juckten“ fast unbeachtet durchs „Schwarze Tor“.

Das damals selbst von so manchem Rottweiler prophezeite Ende der Fasnet alten Stils jedoch blieb aus. Erstaunlich schnell erholte sich der Brauch von seiner mehr oder weniger fast fünfzigjährigen Krise und erlebte einen fulminanten Aufschwung. Schon während der 1920er Jahre feierte man die Narrenkleider, welche noch kaum zwei Jahrzehnte zuvor an Altertumshändler verkauft worden waren, als „Denkmäler der Heimat“.


Werben um Narren
Antworten zu finden auf die Fragen, wie und weshalb sich die lange Zeit verschmähte Feierform so schnell in ein „heimatliches“ Symbol verwandeln konnte, war Ziel einer volkskundlichen Doktorarbeit. Wie sich im Vorfeld herausstellte, versprach die Durchsicht der Rottweiler Lokalzeitungen, welche sich Jahr für Jahr dem Fastnachtsfest ausführlich widmeten, aufschlussreiche Einsichten.

So offenbarten sich beispielsweise die erheblichen Anstrengungen der 1903 von einigen Handwerkern gegründeten Narrenzunft, die unter anderem mit so genannten „Sprungprämien“, mit geschickter Vereinspolitik und einer regelrechten Werbeoffensive versuchte, den Rottweilern das althergebrachte „Narren“ wieder schmackhaft zu machen. Ganz offensichtlich ging es dabei um viel mehr als die Rettung einer Brauchform, die in Vergessenheit zu geraten schien.

Die ehemals ruhmreiche Reichsstadt war nach ihrer 1803 erfolgten Eingliederung ins Königreich Württemberg von zunehmender Bedeutungslosigkeit bedroht. Besonders um das Selbstbewusstsein der Gewerbetreibenden schien es Ende des 19. Jahrhunderts schlecht bestellt zu sein. Nachbarstädte wie Schramberg oder Schwenningen setzten ganz auf die Industrialisierung und florierten. Im Gegensatz dazu hegten nahezu alle Bewohner Rottweils eine tiefe Abneigung gegenüber Fabriken.

Ein Teil des überwiegend zugezogenen Bildungsbürgertums – Lehrer, Geistliche sowie Juristen, die an den zahlreichen Schulen und Behörden wirkten – versuchte deshalb in jenen Jahren mit wenig Erfolg, Rottweil als Bade- und Luftkurort zu etablieren.
Die Handwerker und Kaufleute hingegen waren bestrebt, sich wieder der glorreichen Reichsstadtvergangenheit bewusst zu werden. Nichts symbolisierte jene so bedeutungsvolle stadtgeschichtliche Epoche so sehr wie die alten Narrenkleider.


Rottweil statt Nizza
Nach nur relativ kurzer Zeit begann die Überzeugungsarbeit der Zunftmitglieder Früchte zu tragen. Es war gelungen, die äußerst gegensätzlichen Bevölkerungsgruppen auf ein gemeinsames Ziel einzuschwören: Rottweil sollte als „Narrenstadt“ Reputation erlangen. Ob die Narrenzunft bereits 1912 Kinoaufnahmen vom „Narrensprung“ erstellen ließ, ob ein örtlicher Journalist 1925 davon sprach, „vielleicht noch einmal Köln und Nizza in den Schatten zu stellen“, oder ob 1930 sogar in der „Berliner Illustrierten Zeitung“ aufwändig für das Fest geworben wurde – immer sollte zum Ausdruck kommen: „Rottweil kann ohne seine Fastnacht nicht gedacht werden.“ Folgerichtig sprach man fortan von der „Hauptstadt der schwäbisch-alemannischen Narrenprovinz“ und der „Hochburg der historischen Fastnacht“. Das Fest wurde von den Bewohnern wie auch der Außenwelt als Träger des „Eigenen“ und „Typischen“ akzeptiert und erlangte weltweit Berühmtheit. Der Narrenzunft war es gelungen, Holzmaske, Kleid und Schellen mit einem neuen Bedeutungsgehalt zu versehen.


Echt deutsch
Bereits während des Ersten Weltkriegs empfanden Rottweiler im Feld die noch vor wenigen Jahren verramschten Narrenkleider als „heimatliche“ Symbole. Sie gaben dem Gefühl, „Rottweiler“ zu sein, eine sichtbare Form. Die reichsstädtische Fasnet wurde mittlerweile gezielt als Möglichkeit genutzt, der Beziehung zum Herkunftsort Ausdruck zu verleihen, sie öffentlich zu demonstrieren. Nicht nur die Einheimischen erlagen diesem neuen Reiz des Mummenschanz. Bereits 1926 repräsentierten Narrenkleider aus der ehemaligen Reichsstadt als Bestandteil der Stuttgarter Ausstellung „Schwäbisches Land“ den Südwesten Deutschlands.
Diese Wertbesetzung ging den Nationalsozialisten noch nicht weit genug. Systematisch wurde die Rottweiler Fasnet zum „reichsdeutschen“ Heimatsymbol aufgebaut. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieb der nationale Symbolgehalt erhalten: Beispielsweise komplettierte im Rahmen der Weltausstellung 1982 in Knoxville (USA) ein Dia mit Rottweiler Narrenkleidern den Reigen „deutscher“ Impressionen, zu denen auch der Kölner Dom, der Hamburger Hafen oder Schloss Neuschwanstein zählten.


Lebensverlängernde Kraft
Doch nicht nur bezüglich der historischen Entwicklung zum „heimatlichen“ Symbol Rottweils, Württembergs und schließlich ganz Deutschlands erwies sich das Studium der Zeitungen als erhellend – auch die Art und Weise, wie von der Fasnet geschrieben wurde, vermittelte Absichten, Haltungen und Ziele. So findet sich beispielsweise in Umkehrung zur mittelalterlichen Narrenidee das sprachliche Bild des Rottweiler Narren als übernatürliche Lichtgestalt. Korrespondierend dazu erhält das Fest einen sakralen Charakter. Ihm werden reinigende, heilende, läuternde und sogar lebensverlängernde Kräfte beigemessen. Sowohl Einheimische als auch Auswärtige vermochten sich als Leser der Wechselwirkung zwischen Brauch und solchen Darstellungen nicht zu entziehen. Neben der Narrenzunft prägten deshalb auch in hohem Maße die Autoren populärer Lesestoffe die Entwicklung der Rottweiler Fasnet zum „heimatlichen“ Symbol.

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