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Strohgestalten in der südwestdeutschen Fastnacht 

Unheiliger StrohsackLeipferdinger Strohmann
Der Wuescht in Villingen, der Lumbehund in Gengenbach, Ausgestopfte und Reisigbären in Empfingen, Strohbären vielerorts, der Strau-Muni im Schweizer Effingen oder das Buttnmandl im Berchtesgadener Land: Damit seien nur einige von zahlreichen Strohfiguren genannt, die durch ihre Masse an Material, oft auch durch ihre Unbändigkeit auffallen und Fragen nach ihrem Ursprung und ihrem symbolischen Gehalt aufwerfen.


Todaustragen und Gottesdienst
Dank der zeitgenössischen Volkskundeforschung wissen wir vom unmittelbaren Zusammenhang zwischen Brauchausübung und Katechese, Brauchphänomen und Perikope, das ist ein zur gottesdienstlichen Verlesung vorgeschriebener Bibelabschnitt. Mehr als 1400 Jahre lang, bis zur Aufhebung der alten Perikopenordnung durch das Zweite Vatikanische Konzil, las man alljährlich jeweils am gleichen Sonntag dieselben Bibeltexte. Das hatte Auswirkungen auf das kollektive Denken, Handeln und Fühlen unserer Vorfahren. Dieser unmittelbare Zusammenhang zwischen Perikopenordnung und Brauchphänomen erklärt zum Beispiel das Rätsel um den Brauch des Todaustragens als christlich motivierter Brauch, wie Werner Mezger ausführt:
„Genauso einfach läßt sich auch das Geheimnis des sogenannten Todaustragens am Sonntag Laetare in der Mitte der Fastenzeit lüften, bei dem man seit dem 14. Jahrhundert die Personifikation des Todes in Gestalt einer Strohpuppe vor das Stadttor trug und sie danach auf freiem Feld verbrannte. Während dieser Brauch in neuerer Zeit gewöhnlich als eine Form der Winteraustreibung gedeutet wurde, liegt sein wahrer Ursprung in der Perikope des auf Laetare folgenden Donnerstags. Dort war das Evangelium nämlich stets die markante Lukas-Stelle (Lk 7,11-16) mit der Auferweckung des Jünglings von Nain, wo es über Jesus heißt: ‚Als er nahe an das Stadttor kam, siehe, da trug man eben einen Toten heraus (...)’. Auf halbem Weg der vorösterlichen Bußzeit wurde also die Überwindung des Todes durch den Erlöser, wie sie wenig später mit dessen Passion und Auferstehung ihre Vollendung findet, in einer an Lk 7,11 ff. anknüpfenden, zeichenhaften Brauchhandlung nachvollzogen.“


Stroh – die leere HülleVillinger Wuescht
Vor der Folie der biblischen Wundererzählung wird zum Beispiel das Villinger Fasnachtsgeschehen als Parodie auf Leib und Leben Christi verständlich: Der Wuescht ist eine Villinger Narrenfigur, die ein mit Stroh ausgestopftes altes Narrohäs trägt. Am Abend des Fasnachtsdienstag wird dieses Stroh verbrannt. Früher wurde eine Wueschtpuppe auch am Aschermittwoch zusammen mit einer Geldbeutelwäsche am Marktbrunnen in einem Trauerzug getragen und anschließend vor dem Spital auf dem Misthaufen beerdigt. Der Brauch wurde durch den früheren Zunftmeister Albert Fischer aus der Überlieferung des 19. Jahrhunderts zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder eingeführt. Auch in Fridingen an der Donau wird dieser Brauch bis heute gepflegt. 
Dass diese „Strohmännertradition“ kulturgeschichtlich weit zurückreicht, erkennen wir unter anderem daran, dass sich hinter der Maske wohlgekleideter, spätbarocker Narrenfiguren im Kern alte Strohmänner verbergen. Dies zeigt die aufschlussreiche Wort- und Bedeutungsgeschichte von Bajazz, wie sie in jedem italienischen etymologischen Wörterbuch nachgelesen werden kann:
Bajazz * Bajazzo * pajazz (= Mailänder Dialekt für B.) * pagliaccio (= antiquierter ital. Ausdruck für B.) * pagliericcio (= ital. „Strohsack“, „Häcksel“, „Spreu“) * paglia (= ital. „Stroh“). 
Generell kann gesagt werden: Das Auftauchen von Stroh in brauchtümlichen Handlungen gleich welcher Art kann als Indikator gewertet werden, dass der Brauch im Ausstrahlungsbereich des Fasnachtskomplexes steht. Der überwiegend negativ besetzte Zeichencharakter des Strohs im Volksbrauch als Stigma-, Bann- und Abwehrzeichen (Strohschappel, Strohwisch) hat seinen Ursprung in der christlichen Mythologie. Nach Jesu Worten vom Brot, das sein Leib sei, ist das gedroschene Getreide die leere Hülle, die – im übertragenen Sinne – nichts Christliches mehr in sich trägt. Stroh als ‚vacuus follis‘, als Leib, in dem keine Seele ist, ist im christlichen Sinne demzufolge auch der Stoff, der Böses in sich trägt, verbrannt und so aus dieser Welt geschafft werden muss. Hier hat das vielfache Strohpuppenverbrennen zu verschiedenen Terminen seinen geistesgeschichtlichen Ursprung. Fasnachts-, Sommertags-, Kerwefeuer mit und ohne (Stroh-)Puppe thematisieren das Töten des Narren durch Verbrennen. Alle die genannten Formen der Verbrennung, aber auch die von gesellschaftlichen Außenseitern, haben ihren Ursprung im Bibelvers Johannes 15,6: „Wer nicht mit mir vereint bleibt, der wird wie eine abgeschnittene Rebe fortgeworfen und vertrocknet. Solche Reben werden gesammelt und ins Feuer geworfen, wo sie verbrennen.“


Fasnachtsfeuer verbrennen den Narren
Der Nestor der rheinischen Feuerbrauchforschung, der Volkskundler Mathias Zender, sieht irrtümlicherweise das Narrverbrennen getrennt vom  Fasnachtsfeuer:
„Auch Karnevalsverbrennen besteht neben dem häufigeren Ertränken, Vergraben oder Erschlagen einer Karnevalsfigur außerhalb des Fasnachtsfeuers und hat sich vielfach lokal und selbständig entwickelt. An Fasnacht ist der ältere Termin für ein Jahresfeuer eindeutig der 1. Fastensonntag (alte Fasnacht, Sonntag Invocavit, Funkensonntag). (...) Mit diesem Feuer ist in Südwestdeutschland das Scheibenschlagen verbunden.“ 
Offensichtlich in Unkenntnis der spätmittelalterlichen Narrenidee, nach der der „notwendige“ Tod des Narrenkönigs mit dem Ertränken oder dem Verbrennen in finalen Brauchhandlungen gestaltet werden muss, hält Zender das Narrverbrennen als eine Art Freudenfeuer unabhängig vom Fasnachtsfeuer. Dabei sind im alpinen Raum die zahllosen Fasnachtsfeuer wie auch das Radschieben, selbst wenn sie ohne (Stroh-)Puppe entzündet werden, alle Folge des Tötungsgebots des Narren durch Feuer.
„Noch stärker als beim Mai- und Osterfeuer müssen wir erst recht beim Fasnachtsfeuer annehmen, daß das Karnevalstreiben für sich allein, ohne ursprüngliche Beziehung zum Feuerbrauch, da und dort örtlich ein Freudenfeuer als Teil des fasnachtlichen Brauchablaufes hervorgebracht hat. Bestimmte Inseln eines Feuers an Fasnacht und isolierte Belege mögen aus solcher Freude an karnevalistischem Treiben selbständig und ohne Bezug zum eigentlichen Feuerbrauch entstanden sein. Insbesondere bei Belegen für Verbrennen von Personifikationen des Karnevals ist es oft unmöglich zu entscheiden, ob es sich um Entwicklungen aus dem Feuerbrauch oder davon unabhängige Erfindungen handelt.“ 
Doch, es ist möglich und die Antwort auf Zenders rhetorische Frage kann nur lauten: Der Einfluss ist von der Tötungssitte des Narrens durch Verbrennen gekommen. Das Narrverbrennen ist das eigentliche Fasnachtsfeuer,Leipferdinger Strohmann das auch als Fastenfeuer und an noch späteren Terminen auftreten kann. Es sei noch angemerkt, dass in diesem Zusammenhang sinnvollerweise nicht von „Erfindungen“ gesprochen werden kann, wie dies Mathias Zender tut. Dem Tod des Narren und seiner möglichen Wiedererweckung kann nichts Zufälliges nachgesagt werden. Es handelt sich vielmehr um ein überaus produktives volkstümliches Prinzip, das innerhalb des Brauchkomplexes um Fasnacht von zentraler Bedeutung ist. 
Das Ertränken durch die so genannte Wasserprobe war die zweite, klassisch zu nennende Tötungsform für gesellschaftliche Außenseiter und Verbrecher. In der brauchtümlichen Inszenierung wurde der harte Wassertod durch sublime Spielformen gestaltet wie Reiten im Wasser, Eintauchen, durch das Wasser jagen, Ins-Wasser-werfen etc. Vor allem die vielfältigen Wasser- und Brunnenbräuche der süddeutschen Fasnacht gehen auf die szenische Darstellung des Wassertodes des Narren zurück. Das abendländische Christentum kannte also demnach zwei christlich motivierte Tötungsformen, nämlich das Verbrennen und das Ertränken.


Der Strohbär ist los!
Seit dem 15. Jahrhundert galten alle Personen als Narren, die aufgrund abweichender Verhaltensformen, sei es aufgrund geistiger Defekte oder körperlicher Anomalien, vor allem aber wegen ihrer Gleichgültigkeit gegenüber dem christlichen Glauben dem herrschenden Normensystem nicht entsprachen. Vor dem Ideengebäude der christlichen Lehre ist es nicht verwunderlich, daß zahlreiche Personifikationen des Bösen in Szene gesetzt wurden. Als markante Zentralgestalten und Maskentypen treten Hexe und Teufel auf, Narrenkönig und Narr, Wilde Leute und Wilde Tiere, die auch untereinander vielfältige Mischformen eingehen können. In einem von Ort zu Ort variierenden Pandämonium stehen sie im Mittelpunkt der inszenierten Gegenwelten, wobei stets eine Hölle auf Erden thematisiert wird.
Um die Bedeutung der tiergestaltigen Masken- und Verkleidungsformen in der Fasnacht zu verstehen, muss man wissen, dass Tiere seit der Spätantike als Zeichen für Positives oder Negatives, Tugenden oder Laster, für Gut oder Böse, Gott oder den Teufel standen. Diese Vorstellungen waren im „Physiologus“, einer theologischen Schrift aus dem zweiten Jahrhundert, kodifiziert und fanden Anwendung in der spätmittelalterlichen Predigtpraxis. Über diesen Weg konnten die geistlichen Tierinterpretationen im 15. und 16. Jahrhundert Einfluss in die lebendige Volkskultur nehmen.
In zahlreichen süddeutschen Brauchlandschaften tritt der Fasnachts-, Erbsen- oder Strohbär in Form von Ganzkörpermasken auf. Der Bär gehörte, wie wir von Sebastian Franck wissen, bereits im frühen 16. Jahrhundert Strohbär Böttingen zum Bild der närrischen Tage, und manche Fastnachten und Kerwen haben ihn als Mittelpunkt einer Bärentreibergruppe bis heute bewahrt. Die einfachste Deutung des Bären war einmal mehr seine Gleichsetzung mit dem Teufel. Seit dem Hochmittelalter stand der Bär für Luxuria, für Wolllust und Unkeuschheit, weil er der Süße des Honigs nachgehe, bis er in eine Grube falle, gefangen und getötet werde. 
Die Identifikation des Bären mit dem Teufel im Allgemeinen und mit dem Laster der Luxuria im Speziellen war schon im frühen 13. Jahrhundert geläufig. Mit einem blutigen Spektakel im Jahr 1207 wurde der Bevölkerung Roms der Beginn der Fastenzeit, hier insbesondere das sexuelle Enthaltsamkeitsgebot, vor Augen geführt. Papst Innozenz ließ in dominica dimissionis carnium, also am Sonntag des Abschieds vom Fleisch, ein drastisches Spiel mit Tieren inszenieren, von dem die Ouellen berichten: „Man tötete einen Bären, den Teufel, den Versucher unseres Fleisches; man tötete junge Stiere, das heißt den Übermut unserer Lust; man tötete einen Hahn, die Geilheit unserer Lenden.“ Über den Zweck der blutigen Inszenierung heißt es, dies sei geschehen, „damit wir von nun an keusch und nüchtern leben im Kampf um unsere Seele, um an Ostern würdig den Leib unseres Herrn empfangen zu können.“ 
Die Strohbären sind bis heute eine der zentralen Figuren in der südwestdeutschen Brauchlandschaft. In sehr vielen Orten gab oder gibt es Strohbären an der Fasnacht (Singen, Leipferdingen, Wilflingen, Empfingen, Ewattingen, Wellendingen, Frittlingen u. a.), ohne dass man sich des kulturgeschichtlichen und allegorischen Hintergrunds bewusst war oder ist. Als Rätsel galt bislang noch das Phänomen, wieso auch an der Kerwe die Verkleidungssitte gepflegt wird und die gleichen fastnachtlichen Figuren auftreten. 


Wie kommt die Kerwe zur Fastnacht?
Das christliche Festjahr kannte einst zwei Fastenzeiten, von denen heute nur noch eine gefeiert wird: die ab Aschermittwoch beginnende vierzigtägige Fastenzeit. Aber auch die vorweihnachtliche Adventszeit war ursprünglich eine Zeit des strengen Fastens, der Gebete und der Meditation. In Analogie zur vierzigtägigen Osterfastenzeit hatte die Kirche schon früh ebenfalls eine vierzigtägige Fastenperiode vor das Epiphaniasfest am 6. Januar gelegt. Die im fünften Jahrhundert noch geltende vierzigtägige Fastenzeit, die so genannte Epiphaniasquadragesima, soll im sechsten Jahrhundert von Papst Gregor auf vier Wochen verkürzt worden sein. Von da an war sie eine „geschlossene“ Zeit der Buße und Einkehr, in der allen weltlichen Vergnügungen vom Tanzen bis zum Fleischgenuss (im übertragenen Sinne auch sexuell) entsagt werden musste. Weihnachten war in jener Zeit ein noch nicht so hohes Fest wie heute. 
Wichtig ist: beide Fastenzeiten wurden durch ein eigenes Schwellenfest eingeleitet. Das war zum einen der Fastnachtsdienstag, der als opulentes und ausgelassenes Schmausfest ursprünglich in den Abendstunden dieses Tages (daher Fastnacht) begangen wurde. Das zweite Schwellenfest war der 11.11., der Martinstag, von dem heute lediglich das Martinsgansessen geblieben ist. Die um den Termin liegenden Martini-Kirchweihen und die zahllosen Spätjahreskirchweihen sind als profane Ersatzfeiern dieser ursprünglichen Sitte bis heute geblieben. Auch in den beiden traditionellen häuslichen Schlachtfestterminen Spätjahr und Frühjahr zeigen sich noch die Folgen dieser vorfastenzeitlichen Schwellenfeste.
Es ist das Verdienst des jungen rheinischen Karnevals, die beiden Fasnachts- bzw. Fastenzeiten zu einer einzigen Saison, beginnend mit dem 11.11., zusammengefasst zu haben: der so genannten fünften Jahreszeit der Fastnachter. So spannt sich heute der närrische Bogen vom 11.11. (Martinitag) über Weihnachten und Neujahr hinweg bis zum Aschermittwoch. Bedeutsam ist, dass wir mit einer quasi zweifachen Fasnacht im Jahreslauf rechnen können. Dasselbe Ereignis hat dieselben brauchtümlichen Erscheinungen wie den Mummenschanz auch nach dem Martinitag hervorgebracht. Deshalb braucht sich niemand zu wundern, wenn in Süddeutschland die Maskenbräuche von Martini bis Aschermittwoch reichen und an Pfingsten oder zur Kerwe dieselben Masken und Narreninsignien auftreten wie an Fasnacht.

Helmut Seebach, veröffentlicht in "Narri-Narro" 4/2004
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Der Hoorige Bär aus Singen
Die wohl spektakulärste Gestalt der Singener Fasnet ist der Hoorige Bär. Der Hoorige Bär ist im 19. Jahrhundert belegt und aus einem einfachen Strohbären hervorgegangen. Er ist aber gegen Ende des 19. Jahrhunderts vermutlich wegen der zunehmenden Industrialisierung Singens wieder aus der Öffentlichkeit verschwunden. 
Nach intensiven Studien wurde er 1949 wieder ins Leben gerufen. Man ersetzte das früher verwendete Roggenstroh beim neuen Häs durch Erbsenstroh. Jedes Jahr werden in der Poppele-Zunft Häser für vierzehn männliche Hästräger angefertigt. Damit man nicht, wie früher üblich, den Hästräger jedes Jahr aufs Neue mit Stroh einbinden musste, wird das Erbsenstroh auf Drillichanzüge aufgenäht . Das hat den großen Vorteil, dass man das Häs komplett an- u. ausziehen kann. Seit 1955 trägt der Hoorige Bär eine Scheme (Maske), die von Fritz Moser (Villingen) und später von Hans Jehle (Sulz a.N.) geschnitzt wurde. Der Hoorige Bär führt einen knorrigen Stock mit sich und kann mit diesem und der grimmig dreinblickenden Scheme sicherlich als eine Verkörperung des Wilden Mannes gesehen werden.

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